Besonders begeistern mich die
Vierländer Stickmustertücher.
Sie
stellen im breiten Spektrum der unterschiedlichsten Stickmustertücher
eine Besonderheit dar. Vierlande ist die Bezeichnung eines
Landstrichs der Elbmarsch mit den Gemeinden Kirchwerder,
Altengamme, Neuengamme und Curslack, der seit 1868 zu Hamburg
gehört
"In jenem Gebiet, (...) , ehrte man Traditionen,
verzierte seinen wertvollen Besitz sorgfältig und stellte
ihn an Höhepunkten dörflichen Lebens wie Taufe,
Hochzeit, Begräbnis gerne zur Schau. Schon in jungen
Jahren übten Mädchen mit schwarzer Seide oder
Wolle Kreuzstichmuster für die Aussteuer. Als hauptsächlichste
Motive fallen Rosettenkränze auf, sowie Lebensbäume,
bekrönte Rauten, daneben einzelne Buchstaben." (zitiert aus:
Muster und Zeichen gestickt
und gesammelt auf textilem Grund, VGS Verlagsgemeinschaft St. Gallen, 1996)
Besonders war tatsächlich, dass sie fast ausschließlich
mit schwarzer Seide auf naturfarbenes Leinen gestickt wurden. Die Blütezeit war zwischen 1770 und 1870.
Sie haben einen außergewöhnlichen Reiz durch ihre Struktur,
Dichte und graphische Prägnanz, die sie im besonderen Maße
modern erscheinen lassen.
Die verwendeten Symbole in den Motiven haben alle eine
Bedeutung.
Elfi Connemann, die Sammlerin und ehemalige Eigentümerin / Leiterin des Stickmustertuchmuseums in Celle, das nach der Übernahme durch die Stadt zu unserem größten Bedauern geschlossen wurde, hat sich um die Deutung der Symbole besonders gekümmert (
Ein Vierländer Stickmustertuch
von 1826, in Ornamente 2/94)
Die Rosette – der Kreis – gilt als universelles Symbol für Ganzheit, Unendlichkeit, Vollkommenheit und wird heute noch benutzt, im Ehering, Brautkranz, Beerdigungskranz.
Das Kreuz – die Achse in einer Rosette – steht für die „Achse der Welt", dem Sinnbild des Christentums, der Errettung der Menschheit.
Die Raute – einem auf einer Ecke stehenden Quadrat fehlt die Spitze – symbolisiert das weiblich-schöpferische Prinzip: die Geburt.
Sie ist auch als Vulvadarstellung das Lebenssymbol vieler
Fruchtbarkeitsgöttinnen in der Volkskunst vieler Völker. Aus der
„weiblichen Raute“ wird das „liebende Herz“.
Das Lebensbaumsymbol steht in den Mythen verschiedener Länder
für:
_ den „Wohnraum der Götter“
_ seine Früchte nähren Götter, verstorbene Könige und Selige und schenken Unsterblichkeit
_ „das Licht“, denn er steht am östlichen Ausgang der Welt – dort wo die Sonne aufgeht
_ „Gut und Böse“; die verbotenen Früchte vom „Baum der Erkenntnis“ hatten den Sündenfall zur Folge
_ das Totenreich – dem Land des Lebens nach mythischem Denken
_ die „göttliche Mutter“ als Lebensträger und –erneuerer
Auch heute noch ist die tiefere Bedeutung dieses Symbols in uns: Für
Neugeborene wird ein Baum gepflanzt, die Eiche oder die Linde bildet die
Mitte des Dorfes – der Tanz um den Maibaum, das Schmücken des
Christbaums, die Trauerweide, der Freiheitsbaum. In vielen Fällen
entspringt der Lebensbaum einer Vase oder Urne (Lebensbrunnen), manchmal
auch einem Herzen, dem uralten Sinnbild für die Mutter Erde, begleitet
von Vögeln und Hirschen als Sonnentieren.
Diverse kleinere Motive haben auch ihre Bedeutung:
_ einander zugewandte Vögel – Liebe
_ kleine Bäumchen – Lebensbaum
_ Engel – Totenengel, Totenvögel.
Die Namen der Stickerinnen wurden sehr oft nach den Anfangsbuchstaben der ersten beiden Silben abgekürzt, z.B.: Le-na Har-s: LNHS, Met-te Lüt-ten-see: MTLTS
Ganz selten wird das Rätsel auf dem Mustertuch selbst aufgelöst.